Die langjährige Notrufkundin und Nutzerin des Rotkreuz-Fahrdiensts schrieb in einer E-Mail ans Zürcher Rote Kreuz: «Nie werde ich diese Reisen vergessen, die Kinder, die wir aus ihren zerbombten Städten holten und dann zurückbrachten. » Darüber wollten wir mehr wissen.
Im kalten Februar besuche ich die betagte Sylvia Ludwig im Zürcher Unterland. Adrett gekleidet, sorgfältig frisiert und mit neugierigem Blick öffnet sie mir die Tür. Der Stock in der Hand und der Rotkreuz-Notrufknopf am Armgelenk verraten mir, dass sie beim Gehen aufpassen muss. Einige Augenblicke später sitzen wir bereits in der gemütlichen Stube und meine Gastgeberin beginnt – glasklar und detailliert – von ihren Erinnerungen an bewegte Zeiten zu sprechen.
Sie sei 1945 nach Kriegsende 17 Jahre alt und ausgebildete Handelsschülerin gewesen. «Ich habe gewusst, was ich wollte: Für eine Tätigkeit beim Roten Kreuz, das nach dem verheerenden Krieg in Europa alle Hände voll zu tun hatte, wäre ich bereit gewesen, sogar langweilige Büroarbeit zu verrichten», schreibt sie Jahre später in ihren Memoiren. Bald ging ihr Wunsch in Erfüllung und sie begann beim SRK in Bern in der Abteilung «Individuelle Hilfe» zu arbeiten. Dort türmten sich «Berge von Briefen aus den kriegsgeschädigten Ländern».
Bewegende Erinnerungen
Aus der hochbetagten Frau sprudeln die Erinnerungen. Sie war betroffen vom Elend, das der Krieg verursacht hatte, und fühlte sich berufen, helfen zu wollen. «Ich wusste einfach: Da muss ich helfen.» Wenige Wochen später erhielt Sylvia Ludwig die Zusage, sie könne als Begleiterin der Rotkreuz- Kinderzüge nach Berlin reisen, um knapp 700 Kinder zur Erholung in die Schweiz zu bringen. Zugleich mussten Hunderte von Kindern, die zuvor drei Monate in der Schweiz waren, in die kriegsgeschädigten Städte zurückgebracht werden.
«Mein Vater war nicht begeistert», erzählt die alte Dame. «Er machte sich Sorgen, da der Zug den russischen Sektor durchqueren musste. Und ich war ja erst 17 Jahre alt. Vater musste seine Unterschrift für den Pass geben », berichtet sie schmunzelnd. Bereits die Hinreise sei berührend und aufwühlend gewesen: «Überall im Wagen lagen Kinder am Boden und auf den Bänken. Mit Decken umhüllt klammerten sie sich an prall gefüllte Rucksäcklein, die ihnen ihre Schweizer Pflegeeltern für die Rückreise mitgegeben hatten.»

Meine Gesprächspartnerin wird nachdenklich, als sie von der Einfahrt ins zerstörte Berlin erzählt. Sie schliesst die Augen. Überall habe sie Ruinen und eingestürzte Häuser gesehen. Die Menschen seien wie Schatten durch die Strassen gegangen. «In ihren Augen lag Hoffnungslosigkeit.» Am Bahnhof hätten sich die Leute an die trennenden Gitter gedrängt und auf den Rotkreuzzug gestarrt, schreibt sie in ihren Lebenserinnerungen.
Zwei Tage Aufenthalt erhalten die sogenannten Convoyeusen in Berlin, bevor sie erneut Kinder zurück in die Schweiz begleiten. Die Kleinen seien übermüdet gewesen. Verängstigt. Dankbar hätten sie sich gefreut, nach langen Entbehrungen im Zug Suppe und Brot zu erhalten.
Ein Bub sei ihr besonders in Erinnerung gewesen, da er seine Mutter so vermisst habe. «Wir hätten gar nicht so viele Arme gehabt, wie nötig gewesen wären, um all den Kindern Nähe zu geben», sagt sie, derweil ihre Hand tastend nach dem Stock sucht.
Ein Schreckensmoment auf jener Rückreise von Berlin sei die Kontrolle durch russische Soldaten gewesen. Diese kontrollierten mit scharf abgerichteten Hunden den unteren Teil des Zuges und die Listen mit den Namen der Kinder. «Glück und Gelingen des Kinderzugs schienen an einem Faden zu hängen.» Doch alles ging gut und die Kinder kamen wohlbehalten in der Schweiz an, wo sie drei Monate lang bei Pflegefamilien aufgepäppelt wurden.
Meine Gesprächspartnerin blieb dem Roten Kreuz ein paar Jahre treu. Sei es als Verkäuferin von Rotkreuz-Abzeichen, um Geld zu sammeln, oder als Sekretärin von Dr. Hans Haug, dem späteren Rotkreuz-Präsidenten (1968 bis 1982).
Jahrzehnte später sitze ich auf ihrem Sofa im Zürcher Unterland. Wir blättern lange in den Fotoalben vergangener Zeiten. Dann bedanke ich mich herzlich für die wertvolle Begegnung und schliesse leise die Türe, hinter der eine Dame mit so wichtigen Erinnerungen an die vergangene Rotkreuzarbeit wohnt.
