Interview

Humanität im Krieg

Ausgabe 2 / 2022
Ein Gespräch über die Geschichte von Kriegen, die Bestrebungen nach Humanität und die Bedeutung des Roten Kreuzes.
Prof. Dr. Rudolf Jaun im Gespräch über Krieg und die Bedeutung des Roten Kreuzes

Lea Moliterni: «Nie wieder Krieg» – das war die grosse Parole nach dem Ersten Weltkrieg.
Prof. Rudolf Jaun:
Ja, das war die Losung. Denn der Erste Weltkrieg hatte immense Opferzahlen gebracht. Und so war das allgemeine Verständnis, dass sich so etwas nie mehr wiederholen sollte. Wobei es später das nationalsozialistische Deutschland nicht daran hinderte, nochmals aufzurüsten und den Krieg zu suchen.

Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg war doch klar, dass die Welt nie mehr solche Verheerungen erleben sollte?
Das ist so. Denn wie schon nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit der internationalen Sicherheitspolitik versucht – ich spreche hier vom Völkerbund und später der UNO –, zu verhindern, dass Staaten gegeneinander Krieg führen. Diese Ausgangslage führte letztlich zur UNO-Charta, die Angriffskriege verbietet. Es bleibt aber anzufügen, dass diese Deklaration nicht «staatsinterne» Bürgerkriege verhindern kann. Legitim bleiben Verteidigungskriege.

Würden Sie folglich den Kalten Krieg als eine Abkehr von der klassischen Kriegsführung bezeichnen?
Ja, das kann man so sagen. Diese lange Phase stellte eine Abkehr von der bisherigen Art und Weise dar, wie Krieg geführt wurde. Denn man versuchte, den Gegner durch wirtschaftliche, politische, kulturelle und technologische Massnahmen niederzuringen. Letztlich hatten diese dasselbe Ziel: die gegnerische Partei kampfunfähig zu machen und in Schach zu halten.

Passt demnach die Aussage von Carl von Clausewitz, dem bekannten Militärtheoretiker aus dem 19. Jahrhundert, der sagte: «Der Krieg ist ein wahres Chamäleon»?
Dies passt durchaus, denn gerade in der Periode des Kalten Krieges fand eine Vielzahl von sogenannten «Stellvertreter- Kriegen» statt. Schauen Sie sich all die Befreiungs- und Aufstandskriege in Afrika oder Lateinamerika an, bei denen die Grossmächte intervenierten. Kriege fanden nun in ganz verschiedenen Formen statt.

Ich möchte zum Frieden übergehen: Bedeutete das Ende des Kalten Krieges nicht gleichzeitig Frieden? Ab den 1990er-Jahren bestand doch eine tief empfundene Friedensabsicht?
Ja, da gebe ich Ihnen recht. Man glaubte an eine sich öffnende Friedensperiode. Was man sich nicht mehr vorstellen konnte, war ein europäischer Grosskrieg. Armeen wurden entsprechend überall abgebaut und etwas naiv «Friedensdividenden » gefordert.

Wurden deshalb so grosse Anstrengungen in der Friedensarbeit unternommen und breite Friedensforschung betrieben?
Tatsächlich bildete die Abrüstung einen wichtigen Gegenstand der Friedensforschung. Zugleich wurde ab den 1990er- Jahren versucht, Armeen in kriegsverhindernde Truppen umzuwandeln. Man versuchte fortan, Streitkräfte vom Frieden her zu denken – sie sollten zu Garanten des Friedens werden.

Welches ist die Rolle vom Roten Kreuz, wenn wir von kriegerischen Auseinandersetzungen sprechen?
Die Bedeutung ist zentral. Denn mit der Gründung des Roten Kreuzes im 19. Jahrhundert kam die Absicht auf, Humanität auf das Kriegsfeld zu bringen. Die Schlacht von Solferino erschütterte Rotkreuz-Gründer Henry Dunant derart, dass die neutrale Hilfe für alle Verletzten – egal von welcher Konfliktpartei – seine lebenslange Mission wurde.

Die Humanität als menschliches Prinzip. Davon war Henry Dunant beseelt.
Sein grundlegender Gedanke war «Caritas inter arma». Das heisst, selbst bei Waffengewalt soll die Menschenwürde, die Menschlichkeit garantiert sein. Diese Haltung führte zur Formulierung der Genfer Konvention im 19. Jahrhundert, die nach dem Zweiten Weltkrieg erneuert wurde.

Was bedeutet dies konkret?
Die Idee war, dass alle Massnahmen zur Linderung der Not der Kämpfenden unter den Schutzschild des Roten Kreuzes gestellt werden. Deshalb ist der Grundsatz der Neutralität, die Neutralität aller Rotkreuzaktivitäten, fundamental.

Um auf beiden Seiten in einem Krieg humanitär wirken zu können, ist Neutralität zentral.
Ja, da stimme ich Ihnen zu. Das zeigt sich auch im aktuellen Ukraine-Krieg. Das ist für die nationalen Rotkreuzgesellschaften, so auch für das ukrainische und russische Rote Kreuz, eine herausfordernde Situation.

Wann kamen Rotkreuzorganisationen erstmals in grossem Stil zum Einsatz?
In grossem Stil sind nationale Rotkreuzorganisationen erstmals im August 1914 zum Einsatz gekommen, als von den Schlachtfeldern Zehntausende von Kombattanten in die französischen und deutschen Lazarette eingeliefert wurden und ohne Rücksicht auf ihre Nationalität gepflegt wurden.

Die grosse Hoffnung «Nie wieder Krieg» hat sich nicht erfüllt.
Einmal mehr zeigt sich, um mit Clausewitz zu sprechen, dass Krieg immer noch als «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» benutzt wird. Damit sind die internationalen Organisationen und die Friedensdiplomatie, aber auch die Streitkräfte erneut stark gefordert, um militärische Resultate des Krieges in nachhaltige Positionen des Friedensschlusses umzuwandeln.

Prof. em. Dr. Rudolf Jaun war bis 2013 Dozent für Militärgeschichte an der UZH und an der Militärakademie ETHZ. Autor von «Geschichte der Schweizer Armee». Seit 1999 ist er Mitglied des Zürcher Roten Kreuzes.

Dr. phil. Lea Moliterni arbeitet seit 2013 beim Zürcher Roten Kreuz als Grossspenden-Verantwortliche und Historikerin. 2017 hat sie bei Prof. Jaun zum Ersten Weltkrieg promoviert.

Alex Ochsner ist freischaffender Fotograf. Durch den Krieg sehr betroffen und durch ukrainische Vorfahren mit einer besonderen Verbindung zur Ukraine, realisierte er das Porträtfoto zugunsten des Roten Kreuzes honorarfrei.