Erinnerungen

Reise ins Paradies

Ausgabe 4 / 2022
Adriana Bastian kam 1946 als elfjähriges Mädchen mit einem Rotkreuz-Kinderzug in die Schweiz. Im Gespräch erzählt sie, wie dieser Aufenthalt ihr weiteres Leben geprägt hat.
Adriana Bastian, Zeitzeugin

An die Zugfahrt in die Schweiz erinnert sich Adriana Bastian, als wäre es gestern gewesen: an die harten Holzbänke im Zug, das Gewusel der vielen Kinder, die grosse Halle in Basel, in denen alle ankommenden «Zugkinder» gewaschen, medizinisch untersucht und neu eingekleidet wurden. Die gebürtige Holländerin gehörte zu den Tausenden von Kindern, die in den Jahren von 1942 bis 1956 dank der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes aus den kriegsversehrten Gebieten Europas in die Schweiz zur Erholung reisen durften. Geboren und aufgewachsen ist die heute 87-Jährige in Haarlem, Niederlanden. Ihre Erinnerungen an den Krieg beginnen im Winter 1944/45, das Jahr des «Hongerwinter», der niederländischen Hungersnot. «Es war schrecklich», erinnert sie sich. Der unglaubliche Hunger, an dem sie und ihre Familie litten, hat sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Erholung in der Schweiz

Im Jahr 1946 durfte das unterernährte Mädchen schliesslich für drei Monate zur Erholung in die Schweiz reisen. Nach der Ankunft in Basel ging es für Adriana Bastian nach Winterthur zu ihren Gasteltern. Ganz «liebe Leute» seien es gewesen, erinnert sie sich. «Gleich zu Beginn haben sie mich gefragt, wie ich sie nennen möchte: Onkel und Tante oder doch lieber Müetti und Vati.» Klein Adriana entschied sich ohne lange zu zögern für Letzteres. «Bis zu ihrem Tod habe ich die beiden so genannt», erzählt sie. Denn der dreimonatige Aufenthalt war der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft: Adriana Bastian reiste fortan fast jede Sommerferien nach Winterthur, um ihre liebgewonnene Gastfamilie und vor allem auch «Thomy», Thomas Gehrig, ihren Pflegebruder, zu besuchen. Dieser war zum Zeitpunkt ihres ersten Aufenthalts gerade mal ein Jahr alt. «Dieser Bub war alles für mich», sagt Adriana Bastian mit warmer Stimme. «Ich durfte ihn baden, ihm zu essen geben und habe mit ihm gespielt.»

Zeitzeugin Adriana Bastian mit ihrem Gastbruder
Thomy ist seit meinem ersten Besuch wie ein Bruder für mich.
Adriana Bastian, Zeitzeugin

Der «Bub» ist mittlerweile 77 Jahre alt und noch immer pflegen die beiden ein enges Verhältnis. «Thomy ist seit meinem ersten Besuch wie ein Bruder für mich.» Die Zeit bei der Schweizer Gastfamilie hat ihr Leben in mancherlei Hinsicht nachhaltig geprägt, ist sie überzeugt: So entdeckte sie etwa auch ihre grosse Passion, das Bergwandern, dank der Winterthurer Familie.

Neue Heimat

Die warmherzige ältere Dame erinnert sich lebhaft an all die schönen Momente ihres Erholungsaufenthalts in der Schweiz: Sie erinnert sich an Ausflüge an die Thur, an Schwimmversuche im Lago Maggiore, an den Genuss ihrer ersten Spargeln und Bananen und vor allem auch an die liebevolle Fürsorge ihrer Pflegeeltern. Manche Erlebnisse sind ihr besonders in Erinnerung geblieben: «Einmal durfte ich mit zwei Freundinnen aus der Nachbarschaft zusammen baden.» Der Badespass in der grossen Badewanne war für die Elfjährige ein Erlebnis – hatte sie doch nie zuvor eine Badewanne gesehen. 

Zurück in Holland absolvierte Adriana Bastian die obligatorische Schule und arbeitete danach in Amsterdam als Kürschnerin – bis sie im Jahr 1961 für immer in die Schweiz übersiedelte. Zu Beginn lebte sie bei ihrer ehemaligen Gastfamilie und arbeitete als Näherin in Zürich. Einige Jahre später lernte sie ihren mittlerweile verstorbenen Ehemann kennen und zog in die Limmatstadt. «Dadurch war ich auch meiner Gastfamilie immer sehr nah», sagt Adriana Bastian. Ihr «Ziehbruder» Thomy ist heute Vater von vier erwachsenen Kindern. Adriana Bastian ist stolze Gotte von Irene, der jüngsten Tochter, die mittlerweile selbst zwei Kinder hat.

Filmluft schnuppern als Zeitzeugin

Letztes Jahr durfte Adriana Bastian Filmluft schnuppern: Sie ist eine der Protagonistinnen in «Halt im Paradies – Erinnerungen von Rotkreuz-Zugkindern», dem 50-minütigen Dokumentarfilm, den das Zürcher Rote Kreuz gedreht hat. «Das war eine wunderschöne und spannende Erfahrung», sagt sie dazu. «Die Erinnerungen an die Nachkriegszeit, an den ersten Aufenthalt in der Schweiz haben mich zwar nie losgelassen. Doch diese intensive Auseinandersetzung mit dem Thema liess mich nochmals tief in die Erinnerungen eintauchen und sie vor allem auch verarbeiten.»