SRK-Kinderhilfe

Vor 80 Jahren

Ausgabe 4 / 2022
Die SRK-Kinderhilfe unterstützte von 1942 bis 1956 in einer grossen Hilfsaktion kriegsgeschädigte Kinder in Europa. Schuhe, Kleider, Nahrung – es mangelte an allem. Historiker Roman Wild schildert die damalige Lage.
Bally-Schaufenster, ohne Datum

Mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht ging in Europa am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende. Weltweit hatten die kriegerischen Auseinandersetzungen knapp 60 Millionen Menschenleben gefordert und weite Landstriche in Trümmerlandschaften verwandelt. Doch das Ende des Krieges war nicht das Ende von Not und Leid: Über viele Monate hinweg zogen Kolonnen aus invaliden Soldaten, ausgebombten Zivilisten, ausgebeuteten Zwangsarbeitern sowie traumatisierten Verfolgten quer durch Europa. Wegen der zerstörten Verkehrsinfrastruktur mussten die Flüchtlinge die beschwerlichen Wegstrecken zu Fuss zurücklegen. Für gewöhnlich besassen sie nichts weiter als das, was sie an Kleidern am Leib trugen oder an Hab und Gut in Koffern mitführten. Am stärksten unter den kriegsbedingten Verwerfungen litten Kinder und Jugendliche. Die nachwachsende Generation sollte auch in den Friedensjahren zu den verletzlichsten und schutzbedürftigsten Mitgliedern der Zivilgesellschaft gehören.

In der Schweiz

Dagegen war die Lage der Schweiz im Jahr 1945 geradezu rosig. Das neutrale Land blieb von direkten Kriegshandlungen verschont, Industrie und Gewerbe erfreuten sich bald wieder voller Auftragsbücher. Angesichts der grenzenlosen Not sahen sich nationale Hilfsorganisationen in der Pflicht, die reichlich vorhandenen Ressourcen der grenzüberschreitenden Nothilfe zukommen zu lassen. Unter den humanitären Organisationen erbrachte das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) und seine Abteilung Kinderhilfe wertvolle Dienste. Für das körperliche und seelische Wohl der Kinder wurden fünf Programme ins Leben gerufen: Patenschaften, Kindertransporte, Milch und Suppenkantinen, Kinderheime und, last but not least, Textilsendungen. In deren Genuss kamen Kinder ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit, sozialen Herkunft oder religiösen Orientierung.

Ungarisches Kind in zerfetzten Schuhen, 1947
Jedes Stückchen Leder ist heute wichtig, um als Flick einen Kinderfuss vor der Nässe zu schützen.
Annonce aus dem Jahr 1947

Kampf ums nackte Überleben

Rund um die SRK-Kinderhilfe dürften vor allem die Kindertransporte bekannt sein. Mehr als 180 000 «Zugkinder» wurden mit der Eisenbahn für einen mehrmonatigen Erholungsaufenthalt in die Schweiz geholt und in Gastfamilien oder Pflegeheimen umsorgt. In Vergessenheit gerieten dagegen die Textilsendungen, das heisst die landauf, landab durchgeführten Altkleider-Sammlungen. Dies überrascht insofern, als die SRK-Organe in den 1940er-Jahren unermüdlich zum Spenden von abgelegten Kleidern und ausgetragenen Schuhen aufriefen. Um nichts weniger als das nackte Überleben gehe es, machte eine Annonce im Herbst 1947 klar: «Schweizer Frauen und Mädchen! Durchsucht Truhen und Schubladen nach Windeln, einem Schlüttli, einem Paar Strümpfchen! […] Schauen Sie nach, ob nicht Schuhe, Sandalen oder Pantoffeln zu finden sind – es dürfen auch zerrissene, ausgetragene sein – ob sich nicht Lederabfälle, lederne Hand- und Markttaschen, Gürtel oder Handschuhe auftreiben lassen. Jedes Stückchen Leder ist heute wichtig, um als Flick einen Kinderfuss vor der Nässe zu schützen.»

Schuhanprobe, ohne Datum

Tatsächlich gingen im Europa der Nachkriegszeit Hundertausende in Lumpen, Lederfetzen und Ersatzmaterialien. Wie die SRK Delegierten auf ihren Auslandsreisen beobachteten, waren die Schuhe der Heranwachsenden eine oder gleich mehrere Nummern zu klein und wurden an der Spitze aufgeschnitten, damit die Zehen Platz hatten. Als unhaltbar stuften die Berichterstatterinnen Erkältungen und Verletzungen ein – und erkannten noch eine weitere Gefahr für das Kindeswohl: Der Schuhmangel verunmögliche die Teilnahme am öffentlichen Leben. Familien mussten die vorhandenen Fussbekleidungen miteinander teilen und die ausserhäuslichen Aktivitäten untereinander abstimmen. Zu den Leidtragenden zählten in erster Linie die Kinder, die die Schule nicht regelmässig besuchen und keine Lernfortschritte erzielen konnten.

Für jedes Kind ein Paar Schuhe

Seit Ausbruch des Krieges unterstützte das SRK in Not geratene Menschen mit Altkleidern. Nach der Lancierung der Kinderhilfe waren aber ungleich grössere Textilmengen erforderlich. Aus den Depots der SRK-Materialzentrale rollten tagtäglich bis zu elf randvoll mit Kleidungsstücken, Wäscheartikeln und Schuhwerk beladene Eisenbahnwagons. Die Fracht wurde in die Grossstädte von Deutschland, Österreich, Ungarn oder der Tschechoslowakei spediert und in «Kleiderstuben» unter Einbezug von lokalen Hilfsorganisationen an bedürftige Kinder verteilt. Ein universales Hilfspaket kannte die SRK-Kinderhilfe nicht, vielmehr suchte sie die textile Not situationsgerecht zu lindern. Während der kalten Jahreszeit sollte jedes Kind im Minimum über ein Kleid, einen Mantel, ein Paar Schuhe, zwei Garnituren Unterwäsche, eine Kopfbedeckung, zwei Decken und zwei Handtücher verfügen.

Leer Warendepots

Der grossen Solidarität von «Herrn und Frau Schweizer» zum Trotz gingen die Depots der Materialzentrale ständig zur Neige. Die SRK-Kinderhilfe bemühte sich, das Sammeln, Sortieren, Ausbessern, Abpacken und Versenden von Altkleidern stetig zu verbessern. Zusätzlich zu den dauerhaften Sammelstellen wurden einmalige Spendenappelle veröffentlicht und die Spendenwirkung plastisch vor Augen geführt – beispielsweise in Form einer kunstvoll gestalteten Schaufenster-Auslage. Die Kinderhilfe wusste mit jeder erdenklichen Form von Sammelgut etwas anzufangen: Der Gebrauchtschuh war genauso willkommen wie der Neuschuh; die zerschlissenen Fussbekleidungen liess das Hilfswerk von Schuhmachermeistern herrichten.

Neben Natural- und Geldspenden wurden sogar Rationierungsmarken verwertet; die SRK-Vertreter durften die verfallenen Coupons bei der eidgenössischen Schuhzentrale einlösen. Zudem wurde auf die sprichwörtliche Hilfe zur Selbsthilfe gesetzt; die Mitarbeiterinnen der Kinderhilfe suchten bei den Verbänden der Schuhwirtschaft um Rohmaterialien und Werkzeuge nach, damit im Ausland Reparaturwerkstätten betrieben werden konnten. Infolge der Vielfalt der Sammlungsaktivitäten und Vielgestaltigkeit des Sammlungsgutes ist es unmöglich, den Wert der bis 1949 fortgeführten Textilsendungen zu beziffern.

Frei nach dem Motto «Tue Gutes und rede darüber» wurde die Öffentlichkeit über die Programme der SRK-Kinderhilfe – ob es sich nun um die Kleidernot ungarischer «Trümmerkinder» oder die Dankbarkeit, mit der bayrische Jugendliche die ledernen «Liebesgaben» in Empfang nahmen – auf dem Laufenden gehalten. Die in diesem Beitrag präsentierten Beispiele lassen erkennen, dass die SRK-Spenderkommunikation in eindringlichen Worten und emotionalen Bildern erfolgte. Damals wie heute gilt, dass humanitäre Hilfe ohne eine professionelle Kommunikation weder plan- noch durchführbar wäre.

Roman Wild, Historiker