Interview

Wie wir erinnern

Ausgabe 4 / 2022
Rotkreuz-Autorin Anita Ruchti sprach mit Professor Lutz Jäncke über Erinnerungen und wie diese aktiviert werden können.

Herr Jäncke, welche Bedeutung haben Erinnerungen für uns Menschen?

Sie sind essenziell. Wir sind das, was wir über uns erinnern. Der grösste Teil unserer Persönlichkeit entsteht durch Erinnerungen.

Wie weit erinnert sich ein gesunder Mensch zurück?

An die ersten vier Jahre unseres Lebens erinnern wir uns gar nicht. Dennoch sind sie wichtig, denn wir haben ein bewusstes und ein unbewusstes Gedächtnis. Im Unbewussten werden in den ersten vier Jahren Erfahrungen abgespeichert, von denen wir gar nicht wissen, dass sie da sind. Diese Erfahrungen beziehen sich vor allem auf Sicherheit und Bindung und beeinflussen später die emotionale Persönlichkeit.

Welche Lebensphase erscheint uns in den Erinnerungen besonders lebendig?

Je weiter wir uns zurückerinnern, desto mehr vergessen wir. Es gibt also eine absteigende Gedächtniskurve. Aber um die Pubertät herum gibt es eine «Beule» in der abnehmenden Erinnerungskurve. Das heisst, wir erinnern für diesen Zeitraum relativ viel. Das Phänomen heisst in der Fachsprache «Reminiscence Bump». In dieser Zeit ereignen sich dramatischste Veränderungen unseres Lebens. Wir ändern unsere Interessen, machen erste Freiheitserfahrungen, erleben vieles zum ersten Mal. Emotionen und einschneidende Veränderungen sind wie ein Booster für die Erinnerungen. Alle Lebensphasen, die über einen längeren Zeitraum mit heftigen emotionalen und neuen Ereignissen einhergehen, bleiben lange im Gedächtnis erhalten. Auch wenn zum Beispiel Menschen in andere Länder einwandern, bleiben ihnen die ersten Jahre im Gedächtnis sehr gut haften. Wenn sie nicht willkommen geheissen werden, werden sie das ein Leben lang nicht vergessen.

Kinderzug des SRK
An lebensprägende Ereignisse erinnern sich Menschen ein Leben lang.

Können wir denn unseren Erinnerungen trauen?

Nein, auf keinen Fall! Erinnerungen sind unsere subjektiven Wahrheiten. Das liegt daran, dass unser Gedächtnis ein Interpretations- und Rekonstruktionssystem ist. Wir speichern Informationen aus der Vergangenheit nicht ab wie ein Computer. Wir rekonstruieren sie jedes Mal, wenn wir uns erinnern. Dabei passiert Folgendes: Wir holen ganz wenige Informationen hervor, die wir wirklich abgespeichert haben. Anhand dieser Informationen rekonstruieren wir die Vergangenheit. Beim Erinnern wird dann diese Erinnerung ins Bewusstsein gehoben. Dabei werden sie von aktuell anliegenden Ereignissen beeinflusst. Das bedeutet, dass man seine Erinnerung beim bewussten Erinnern wieder leicht verändert. Wir denken immer, wir wären gute Erinnerer, aber das sind wir nicht. Wir sind sehr gute Interpretierer. Das ist allerdings ein Riesenproblem bei Zeugenaussagen. Oft sind Menschen überzeugt, etwas erlebt zu haben, obwohl es gar nicht den Tatsachen entspricht. Kurz: Dem menschlichen Gedächtnis würde ich im Hinblick auf die Erinnerung nicht trauen.

Wieso ist auch das Vergessen wichtig?

Es ist nicht nur wichtig – ich sage manchmal sogar, dass das Vergessen wichtiger ist als das Erinnern. Nur schon, wenn man sich vorstellt, man müsste sich an alles erinnern, was man im Leben erlebt hat, das wäre eine Katastrophe! Das würde die Kapazität des Gehirns masslos überschreiten. Auch unser Verhalten würde inadäquat. Wir benötigen manchmal unangenehme Ereignisse, die wir im Gedächtnis abspeichern, um unser Verhalten an die aktuellen Normen anzupassen. Aber für unsere psychische Gesundheit sind die angenehmen Erinnerungen wichtiger. Wir müssen vor allem das Unwichtige, vielleicht auch alltäglich Unangenehme vergessen können. Wir müssen den Schrott des Alltags vergessen, um unsere psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten.

Wie kann ich Erinnerungen hervorholen?

Das Langzeitgedächtnis arbeitet wie ein Netzwerk mit verschiedenen Knoten aus einzelnen Erinnerungselementen. Je weiter oben der Erinnerungsknoten ist, desto besser erinnern wir diese Erinnerung. Je weiter unten in der Hierarchie sich die Erinnerungselemente befinden, desto schlechter können wir diese hervorholen. Wichtig ist, dass wir das Erinnerungsnetzwerk aktivieren müssen, um die einzelnen Erinnerungen hervorzuholen.

Wie mache ich das?

Es gibt verschiedene Gedächtnisnetzwerke. Diese sind oft nicht miteinander verbunden. Wir verfügen zum Beispiel über ein Urlaubsnetzwerk, eines für Physik oder für Pin-Nummern. Beim Abruf von Erinnerungen muss man zunächst das relevante Netzwerk aktivieren. Das ist gar nicht einfach und kann auch mühselig sein. Gelegentlich muss man sich in die Netzwerke «hineinkämpfen», indem man nacheinander die dazugehörigen Erinnerungen wachruft. Manchmal benötigt man dazu auch Hilfe von aussen. Man kann mit der Familie über die Kindheit sprechen, Musik aus einem Urlaub hören oder auch Bilder oder Filme nutzen. Man ruft die Quellen wach, denkt darüber nach, und dann beginnt sich die Erinnerung wie ein Dominostein zu materialisieren, von jedem Detail zum nächsten Detail.

Warum macht es uns zufrieden, in positiven Erinnerungen zu schwelgen?

Wir sind eher geneigt, die angenehmen Ereignisse zu erinnern, weil sie positive Gefühle hervorrufen. Die unangenehmen Geschichten hingegen verdrängen und verändern wir, sodass sie verdaubarer werden. Das ist sehr wichtig für unsere psychische Gesundheit. Wir sind ja ständig gebeutelt von Problemen des Alltags. Es ist teilweise belastend, was uns alles widerfährt. Wir müssen lernen, damit umzugehen. In dem Moment, in dem wir eine Erinnerung ins Bewusstsein hochheben, wird sie verstärkt und wieder abgelegt. Je häufiger Sie eine positive Erinnerung hervorrufen, desto stärker verfestigt sich die positive Erinnerung im Gedächtnis. Es ist darum gar nicht so falsch, sich stark auf die angenehmen Seiten des Lebens zu konzentrieren. Dann verfestigen sich die positiven Gefühle und Erfahrungen.

Lutz Jäncke ist emeritierter Professor für Neuropsychologie der Universität Zürich. Er gehört zu den weltweit meistzitierten Wissenschaftlern und beschäftigt sich insbesondere mit der Plastizität des menschlichen Gehirns, dem Lernen und Gedächtnis sowie der Individualität des Menschen.

Das Interview beinhaltet Textteile aus einem früheren Interview in «Vitamin G», ZHAW/Departement für Gesundheit.