Herr Jäncke, welche Bedeutung haben Erinnerungen für uns Menschen?
Sie sind essenziell. Wir sind das, was wir über uns erinnern. Der grösste Teil unserer Persönlichkeit entsteht durch Erinnerungen.
Wie weit erinnert sich ein gesunder Mensch zurück?
An die ersten vier Jahre unseres Lebens erinnern wir uns gar nicht. Dennoch sind sie wichtig, denn wir haben ein bewusstes und ein unbewusstes Gedächtnis. Im Unbewussten werden in den ersten vier Jahren Erfahrungen abgespeichert, von denen wir gar nicht wissen, dass sie da sind. Diese Erfahrungen beziehen sich vor allem auf Sicherheit und Bindung und beeinflussen später die emotionale Persönlichkeit.
Welche Lebensphase erscheint uns in den Erinnerungen besonders lebendig?
Je weiter wir uns zurückerinnern, desto mehr vergessen wir. Es gibt also eine absteigende Gedächtniskurve. Aber um die Pubertät herum gibt es eine «Beule» in der abnehmenden Erinnerungskurve. Das heisst, wir erinnern für diesen Zeitraum relativ viel. Das Phänomen heisst in der Fachsprache «Reminiscence Bump». In dieser Zeit ereignen sich dramatischste Veränderungen unseres Lebens. Wir ändern unsere Interessen, machen erste Freiheitserfahrungen, erleben vieles zum ersten Mal. Emotionen und einschneidende Veränderungen sind wie ein Booster für die Erinnerungen. Alle Lebensphasen, die über einen längeren Zeitraum mit heftigen emotionalen und neuen Ereignissen einhergehen, bleiben lange im Gedächtnis erhalten. Auch wenn zum Beispiel Menschen in andere Länder einwandern, bleiben ihnen die ersten Jahre im Gedächtnis sehr gut haften. Wenn sie nicht willkommen geheissen werden, werden sie das ein Leben lang nicht vergessen.