Integration

Gelebte Herzlichkeit

Ursula Santner aus Zürich begleitet als Freiwillige Ali aus dem Tschad. Die berufstätige Mutter von Zwillingen möchte mit ihrem Engagement ihre Werte vorleben und weitergeben.
Gelebte Herzlichkeit bei «mitten unter uns»

Vor ungefähr vier Jahren habe ich beschlossen, dass ich etwas weitergeben will. Ich suchte nach einem sinnstiftenden Engagement, das in meinen Alltag als berufstätige, damals alleinerziehende Mutter passt und meine Kinder miteinbezieht. Zudem war es mir ein Anliegen, die Vorurteile gegenüber Geflüchteten abzubauen. 

Als ich über das Integrationsangebot «mitten unter uns» las, war ich sofort überzeugt. Dabei besuchen fremdsprachige Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene wöchentlich eine deutschsprachige Familie oder Einzelperson. Dies, um die Sprache zu erlernen und mehr über das Leben in der Schweiz zu erfahren. Das passt wunderbar zu den Werten, die ich meinen Kindern mit auf den Weg geben möchte: weltoffen und hilfsbereit für andere da sein. Meine damals elfjährigen Zwillinge Aela und Manolo waren einverstanden. Ich meldete mich umgehend beim Zürcher Roten Kreuz. Die Rotkreuz-Koordinatorin kennt die jeweiligen Jugendlichen und kann somit einschätzen, wer zu einer freiwilligen Person und deren Umfeld passt. Alles ist durchdacht. Ich fühlte mich gut durch das Rote Kreuz vorbereitet.

Vertrauen aufbauen

Beim ersten Treffen war die Koordinatorin mit dabei und beantwortete unsere Fragen, was für alle wertvoll und vertrauensbildend war. Die ersten Wochen gelten jeweils als gegenseitiges Kennenlernen. Sowohl wir als auch unser Gast konnten uns so näher kennenlernen, bevor wir uns definitiv füreinander entschieden. Obschon Ali fünf Jahre älter ist als Aela und Manolo, fanden wir rasch den Zugang zueinander.

Heute ist Ali 20 Jahre alt, die Zwillinge sind 15. Ali war damals erst seit ein paar Monaten in der Schweiz. Er wohnte in einer Einrichtung für unbegleitete Jugendliche aus Krisengebieten. Obwohl Ali in einer bildungsfernen Umgebung aufgewachsen ist, sprach und verstand er erstaunlicherweise schon recht gut Deutsch. Als er volljährig wurde, konnte er einen Integrationskurs besuchen, in dem Basiswissen für bildungsferne Migrantinnen und Migranten vermittelt wird. Im letzten August begann Ali eine zweijährige Lehre zum eidgenössischen Berufsattest (EBA) als Reifenpraktiker. Das ist möglich, weil Ali von ihm wohlgesinnten Menschen ermutigt wurde.

Ich meine, wir alle brauchen Menschen, die uns fördern und inspirieren. Wenn ich nun zurückschaue auf die letzten Jahre, stelle ich fest, wie viel sich verändert hat. Ali hat zu uns ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Er bezeichnet mich liebevoll als seine zweite Mutter. Mein Sohn Manolo ist eine Art «kleiner Bruder», obwohl sie inzwischen gleich gross sind. Auch die Verbindung mit meiner Tochter Aela ist von Herzlichkeit geprägt. Ali ist in unsere Patchwork-Familienverhältnisse integriert. Meinen Partner Tom kennt er von Anfang an, und wenn meine Kinder bei ihrem Vater Hans-Jürg sind, dann ist Ali auch dort ein gern gesehener Gast. Ali war immer schon sehr höflich, anfangs eher schüchtern. Heute begrüsst er mich wie ein Gentleman: «Hallo Uschi! Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir?» Dabei wirkt er erwachsen.

Ali ist herzlich, respektvoll und sehr ordentlich. Deshalb hatte er zwischenzeitlich Mühe, sein Zimmer mit einem anderen Flüchtling zu teilen. Er fühlte sich gestört beim Lernen, konnte nicht ausreichend schlafen und er mochte es ordentlicher als sein Zimmergenosse. Ali lebt ohne Familienangehörige in der Schweiz. Er erzählt manchmal von früher und von seiner Flucht aus dem Tschad, wo er sich gegen eine Ungerechtigkeit gewehrt hat, oder von der Kinderarbeit in Libyen. Er beschreibt, wie es ist, wenn die Gesundheitsversorgung schlecht ist und wenn das Leben eines Einzelnen abhängig ist vom sozialen Status.

Ali ist Moslem. Während des Ramadans erzählt er, wie es ihm geht. Als Gast würde ich Ali längst nicht mehr bezeichnen, sondern als Familienmitglied. Meine Kinder sind sehr wichtig für Ali, da es in seiner Situation nicht einfach ist, «echte» Freunde zu finden. Als wir umgezogen sind, hat uns Ali ganz selbstverständlich dabei geholfen. An unserem Weihnachtsfest ist Ali inzwischen ein fester Bestandteil, unabhängig von der Religion. Da er kaum Geld hat, um Geschenke zu kaufen, hat er jedem von uns eine Weihnachtskarte geschrieben. Ich freue mich immer über eine WhatsApp-Nachricht von ihm. Manchmal sendet er mir ein Foto von einem selbst gekochten Gericht, das er mit uns gemeinsam gekocht hat und nun selbst probiert. Das zeigt mir, wie sehr er uns vertraut.

Verantwortung übernehmen

Es gibt Momente, in denen ich ein ernstes Gespräch mit ihm führe. Dabei geht es beispielsweise um den Umgang mit Geld. Wir sprechen darüber, wie wichtig es ist, ein Ziel zu haben und kurzfristig auf gewisse verlockende Anschaffungen zu verzichten. Das untermauere ich mit Beispielen aus meinem eigenen Alltag. Vor Lehrbeginn haben wir über Verantwortung und seine Pflichten bezüglich der Lehre gesprochen. Wir haben gemeinsam erarbeitet, was wichtig sein wird, um das EBA erfolgreich abzuschliessen.

Ali freute sich auf die physische Arbeit, wusste aber, dass der Schulstoff nicht einfach zu bewältigen sein würde. Seine schriftlichen Deutschkenntnisse sind noch nicht so gut. Darum haben wir eine Person für den Nachhilfeunterricht gesucht. Er ist sich bewusst, welche Chance die Lehre darstellt. Im Vorfeld habe ich Kontakt zu seinem Lehrmeister aufgenommen. Das gab ihm die Gelegenheit, mit mir über allfällige Bedenken zu sprechen. Als Ali die Zusage vom Lehrbetrieb in den Händen hielt, haben wir das gefeiert!

Nun ist Ali seit sechs Monaten voll im Einsatz und montiert bzw. demontiert Autoreifen. Manchmal zählt er, wie viel Stück er an einem Tag «gestemmt» hat, und berichtet es mir. Es ist eine herausfordernde physische Arbeit. In der Hochsaison sind die Arbeitstage lang und Ali abends sehr müde. Trotzdem spricht er immer voller Freude und Wertschätzung über seine Arbeit und seinen Arbeitgeber. Das sind die Momente, in denen mir bewusst wird, wie weit Ali gekommen ist und wie sehr er sich bemüht, ein Teil vom Ganzen zu sein.

Bei den Gesprächen mit Ali geht es oft um für uns banale Dinge wie Wäsche waschen, Zahlungen, Beziehungen oder welche Geschenke man wem machen darf. Manchmal bin ich überrascht, wie wenig sich die Personen und Ämter untereinander austauschen, die professionell mit der Integration von Ali beschäftigt sind. Ansonsten gibt es keinen einzigen negativen Aspekt. Ich würde mich sofort wieder für diese Art der Integration einer geflüchteten Person engagieren. Es ist mir enorm wichtig, einen Beitrag zu leisten, um die Gräben, die sich in unserer Gesellschaft auftun, zu verringern und Vorurteile abzubauen. Denn nur was man nicht kennt, macht Angst. Darum möchte ich alle ermutigen: Machen Sie mit! Engagieren Sie sich und seien Sie versichert – Sie bekommen sehr viel zurück!

Wir suchen engagierte Freiwillige

Haben Sie einmal pro Woche zwei Stunden Zeit, einen Jugendlichen oder eine Jugendliche mit Migrationshintergrund bei sich zu Hause zu empfangen, gemeinsam Zeit zu verbringen und auch beim Erlernen der deutschen Sprache zu unterstützen? Wir suchen für den Grossraum Zürich Freiwillige, die junge Menschen bei der Integration begleiten. Wir freuen uns, Sie kennenzulernen!