Erinnerungen

Die Schweiz, meine Heimat

Ausgabe 4 / 2023
Rainer Klotzbücher war dank dem Roten Kreuz 1948 für einen Erholungsaufenthalt das erste Mal in der Schweiz. Er erzählt, was er als Bub erlebt hat und wie die Schweiz seine Heimat wurde.
Rainer Klotzbücher mit seinen Geschwistern
Rainer Klotzbücher mit seinen Geschwistern vor der Baracke, 1947

Ich, Rainer Klotzbücher, wurde während des Krieges Mitte August 1942 in Sachsen-Anhalt geboren. Im Januar 1945 wurde die ganze Wohnsiedlung, wo wir wohnten, durch englische Bomben zerstört. Wir hatten kein Zuhause mehr. Glücklicherweise wohnten meine Urgrosseltern und Grosseltern mütterlicherseits nicht weit weg und wir fanden bei ihnen Unterschlupf. 1947 konnten wir durch die Vermittlung der Firma Bosch, wo mein Vater arbeitete, und mit Genehmigung der russischen Besatzungsbehörde nach Stuttgart fahren, in die Heimatstadt meines Vaters, mit dem Zug und mit sonst nichts.

Bei meinem Grossvater fanden wir für die ganze fünfköpfige Familie für acht Wochen in einem Dachzimmer Unterschlupf. Danach erhielten wir in einer Barackensiedlung ein Zimmer zugewiesen. Am Ende der Baracke war eine kleine Küche, die von allen benützt wurde. Später durften wir umziehen und hatten dann eine eigene grosse Küche mit Holzofen. Das Brennholz und die Tannenzapfen sammelten wir im nahen Wald. Da rund um die Baracken viel Platz für Gärten war, wurde jeder Familie eine Parzelle zugewiesen. So konnten wir Salate, Kartoffeln, Erdbeeren, Tomaten, Bohnen und Erbsen anpflanzen, was für uns ein Segen war. Der Garten half uns, nicht hungern zu müssen.

Reise in die Schweiz

Eines Tages, im Frühling 1948, kam eine Nachbarin ganz aufgeregt zu meiner Mutter und erzählte ihr, dass ein Nachbarsbub in die Schweiz hätte zur Erholung fahren können, jetzt aber erkrankt sei. Meine Mutter solle schauen, dass ich als Ersatz dort in die Ferien fahren könne, da ich ja so mager sei. Das tat meine Mutter. Es wurden Fotos gemacht, ein Ausweis erstellt und die Ausreisegenehmigung bei den Behörden eingeholt. Alles wurde mithilfe des Roten Kreuzes organisiert.

Mit einem Zug voller Kinder ging es vom Stuttgarter Hauptbahnhof in die Schweiz. In Olten durfte ich mit einigen anderen Kindern aussteigen. Für mich ging es mit dem Zug weiter bis nach Wikon im Kanton Luzern. Dort wurde ich vom Ehepaar Othmar und Lina Bolliger sehr herzlich aufgenommen. Es dauerte nicht lange, bis ich mich eingewöhnt hatte. Es gab sehr viel zu bestaunen. Nebenan das Gasthaus Schlossberg mit Kegelbahn und Gartenwirtschaft unter grossen Kastanienbäumen. Dort sammelte ich mit anderen Kindern die Kastanien. Wenn wir einen Sack voll hatten, konnten wir diesen für ein paar Rappen an die Försterei verkaufen. Die Kastanien wurden als Winterfutter für die Rehe im Wald benützt.

Gastfamilie mit Zugkind
Rainer Klotzbücher mit den Gasteltern und deren erwachsenen Tochter mit Partner, 1948

Dann die Fabrik, wo Othmar Bolliger arbeitete und Maschinen für die Papierfabrikation hergestellt wurden. Er zeigte und erklärte mir alles. Ich freundete mich mit Franz, einem Sohn der Fabrikantenfamilie, an. Wir unternahmen sehr viel miteinander. Er war etwas älter als ich und kannte sich gut aus, und so erfuhr ich von ihm eine ganze Menge neue Sachen. Manchmal gingen wir den Schlossberg hinauf zur Marienburg, in der ein Mädcheninternat war, um nach den hübschen Mädels zu schauen, was den Ordensschwestern gar nicht gefiel.

Die Rotkreuz-Kinderzüge waren für viele Kinder ein grosser Segen. Ich bin dem Roten Kreuz sehr, sehr dankbar dafür.
Rainer Klotzbücher, Zeitzeuge und Autor

Familie Bolliger machte mit mir öfters schöne Ausflüge, wie zum Beispiel nach Luzern an den Vierwaldstättersee, wo auch einmal ein Seenachtsfest stattfand und ich meine ersten heissen Maroni bekam. Lina Bolliger hatte eine Tretnähmaschine, mit der sie die Arbeitskleider der Fabrikarbeiter flickte und mir auch Kleider nähte. Einmal kauften sie mir braune Lederstiefel mit Holzsohlen. Ich war ganz stolz und dankbar, dass ich solche bekommen hatte und tragen durfte.

Interessant war für mich, wenn die Schweine gefüttert wurden und die Zaumzeuge der Pferde repariert und neu schwarz eingefärbt wurden. Einmal durfte ich sogar eine kurze Strecke auf einer Kuh reiten, als wir zum Kartoffelneinholen mit dem Heuwagen aufs Feld fuhren. Manchmal half ich mit beim Heuwenden. So habe ich vieles zum ersten Mal machen dürfen und gelernt. Ich erinnere mich heute noch sehr gut an die feine Butterrösti, die feine Butter auf dem schmackhaften Bauernbrot und die Poulets, die wir vom Bauer nebenan hatten.

Die Rotkreuz-Kinderzüge waren für viele Kinder ein grosser Segen. Ich bin dem Roten Kreuz sehr, sehr dankbar dafür. Die drei Monate gingen für mich viel zu schnell vorbei. Lina Bolliger hatte mir für die Heimfahrt einige Bananen mitgegeben. Als meine Mutter diese uns Kindern daheim geben wollte, sagte meine Schwester: «Nein Mutti, solche Würste mag ich nicht.» Nach dem Krieg gab es damals in Deutschland noch keine Bananen und Orangen zu kaufen. Wir Kinder kannten deswegen diese Früchte nicht. 

Rainer Klotzbücher, Zeitzeuge
Rainer Klotzbücher, geboren 1942 in Sachsen-Anhalt, lebt heute in Zürich

Hier bleibe ich!

Zu meiner grossen Freude wurde ich ein Jahr später von der Familie Bolliger privat für einen dreimonatigen Ferienaufenthalt eingeladen. Das Wiedersehen war überaus herzlich. Ich erlebte bei Bolligers wieder eine sehr schöne Ferienzeit, die ich nie vergessen werde und für die ich dieser Familie ewig dankbar bin. Später besuchte uns ihre Tochter Heidi – sie hatte unterdessen geheiratet – mit ihrem Mann Hans in Stuttgart. Das war natürlich ein besonders schönes und fröhliches Ereignis.

Während meiner Schulzeit durfte ich in den Sommerferien noch einmal in Wikon bei Bolligers Ferien machen. Im Dorf hiess es dann: «Dem Bolliger sein Bub kommt!» Für eine Woche durfte ich zudem zu Bolligers Tochter Heidi und deren Familie nach Buchs bei Aarau. Sie hatten inzwischen zwei Buben, mit denen ich dort spielen konnte. Und später, während meiner Lehrzeit, machte ich in Wikon mit einem Schul- und Lehrkameraden abermals für 14 Tage Ferien. Othmar Bolliger war gerade pensioniert worden. So machten wir mit dem Auto gemeinsam viele Ausfahrten: Wir waren am Rheinfall, auf dem Bürgenstock, rund um den Vierwaldstättersee, in der Stadt Bern, besuchten den Flughafen Zürich-Kloten und weitere Orte, die uns sehr gefallen haben.

Dem Roten Kreuz zu Dank verpflichtet und aus humanitären Gründen spendete ich in den vergangenen Jahren in Zürich bis zu meinem 75. Geburtstag genau 150 Mal von meinem Blut.
Rainer Klotzbücher, Zeitzeuge und Autor

Im Winter 1966 kam ich beruflich nach Zürich, um hier am internationalen Hauptsitz meiner Firma als Spezialist für textile Fasern zu arbeiten. Die Stadt hat mir gleich gefallen und so sagte ich zu mir: «Hier bin ich und bleibe ich!» Ein Jahr später lernte ich meine Frau Micheline kennen. Später bekamen wir zwei Kinder, Sohn Bernd und Tochter Sibylle. Mit der Familie Bolliger pflegten wir über die Jahre bis zu deren Tod einen guten und liebevollen Kontakt. Vater Othmar Bolliger starb im März 1969 im 73. Altersjahr und Mutter Lina Bolliger starb vier Jahre später im 76. Altersjahr. Beide Abschiede haben mich sehr bedrückt und mitgenommen.

Dem Roten Kreuz zu Dank verpflichtet und aus humanitären Gründen spendete ich in den vergangenen Jahren in Zürich bis zu meinem 75. Geburtstag genau 150 Mal von meinem Blut. Seit meine liebe Frau Micheline im Jahr 2011 gestorben ist, wohne ich weiterhin mit meinem Sohn zusammen in der Stadt Zürich. Meine Tochter wohnt mit ihrem Mann und den drei Kindern in Küsnacht am Zürichsee. In den vielen Jahren habe ich sehr viele liebe Menschen kennengelernt, woraus sich bis heute viele gute Freundschaften ergaben. Ich bin sehr glücklich. Die Schweiz wurde, ist und bleibt meine Heimat.

Rainer Klotzbücher